Die ersten Anzeichen bemerkte ich im Dezember 2004. Ich hatte Probleme, den rechten Fuß anzuheben, um auf eine Leiter zu steigen. Dazu bekam ich immer öfter Wadenkrämpfe. Zunächst deutete ich dies als Schwächesymptome aufgrund meiner hohen Arbeitsbelastung. Der Orthopäde, den ich zu Rate zog, meinte, ich hätte wohl einen Nerv eingeklemmt und verschrieb mir Massagen. Da ich jedoch keine Schmerzen am Rücken hatte, teilte ich die Meinung des Orthopäden nicht. So ließ ich ein MRT von Kopf und Rücken machen, jedoch ohne Ergebnis. Zur Fußhebeschwäche und den Wadenkrämpfen gesellte sich ein Zucken im Oberschenkelmuskel, deshalb ging ich zu einem Neurologen. Dort wurde eine Nervenmessung durchgeführt, auch ohne einen eindeutigen Hinweis auf die Ursache meiner Beschwerden. Immerhin meinte die junge Neurologin, dass „etwas nicht stimmte“. Wegen der ärztlichen Ratlosigkeit ließ ich mich deshalb in Eigeninitiative auf die neurologische Station in der Charité einweisen. Nach einer Woche, angefüllt mit vielen Untersuchungen, die letztlich alle anderen Ursachen ausschlossen, kam dann im Mai 2005 die Diagnose: Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Bis dahin war mir diese Erkrankung, wie den Meisten, völlig unbekannt gewesen. Deshalb war es gut, dass meine Lebensgefährtin und ich zur Diagnose auch gleich erste Informationen über diese Erkrankung erhielten.
Doch viele Fragen tauchten erst in den nächsten Tagen auf. Auch musste die Information über die Aussicht, dass diese Erkrankung in den meisten Fällen in drei bis fünf Jahre zum Tode führt, erst einmal sacken. Wir hatten das Gefühl, dass uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird, wir unaufhaltsam fallen und Nichts diesen Absturz aufhalten kann.
Wir fragten uns:
- Was ist das für eine Erkrankung?
- Welche Wirkung hat sie auf meinen Körper?
- Wie geht es mit mir, wie mit uns weiter?
- Was passiert mit meinen beruflichen Plänen und was mit den gemeinsamen Plänen für eine Familie, den Hausbau?
- Sollte all das nicht mehr gelten? Wahr haben wollte ich es nicht!
Doch ich ließ mir keine Zeit zum Trauern. Eine Woche später begann die Organisation meiner prognostizierten restlichen Lebenszeit. Wir wollten genau wissen, was da auf mich (uns) zukommt, aus erster Hand. Ich bekam kurzfristig einen Termin in der ALS-Ambulanz der Charité Berlin, bei Prof. Meyer. Das Team der Ambulanz half uns dabei, uns zu orientieren und gab Empfehlungen, wo wir uns am besten über die nicht medizinischen Fragen beraten lassen können.
Zunächst sammelten wir Informationen rund um ALS und darüber, was auf uns zukommen würde. Wir recherchierten im Internet, lasen Broschüren, nahmen Kontakt zur ALS-Selbsthilfegruppe der DGM auf und vereinbarten einen Termin mit einer Pflegeberaterin. Frau Schmidt-Statzkowski von Premio-Berlin war uns von der ALS-Ambulanz als die Fachfrau/Pflegeberaterin für ALS-Betroffene in Berlin empfohlen worden. Auf ihr Anraten hin ließen wir uns auch von zwei Anwälten für Sozial- und Arbeitsrecht beraten. Denn eines war klar: Nur wer seine Ansprüche kennt, kann sie auch einfordern und durchsetzen. Das Geld für die Beratungen war gut angelegt.
Frau Schmidt-Statzkowski machte mir auch gleich klar, dass ich über kurz oder lang auf Assistenz angewiesen sein würde. Also ließ ich mich von einem Pflegedienst beraten, wie sich eine Pflegeversorgung letztendlich gestalten könnte. Da gibt es ja mehrere Möglichkeiten. In eine WG ziehen, dazu bin ich viel zu aktiv und wollte das auch bleiben. Mit meiner Freundin zusammenziehen und ihr die Hauptarbeit überlassen, kam auch nicht in Frage. Blieb nur die 1:1 Betreuung, welche nur möglich ist, wenn ich alleine in meinem eigenen Haushalt lebe.
Die Herausforderung bestand nun darin, dieses Ziel zu erreichen. Dazu müssen viele Puzzle-Teile zusammengefügt, einige bürokratische Hürden genommen werden. Aber der Reihe nach…
In der Firma hatte ich bislang noch nichts von meiner Erkrankung verlauten lassen. Auf Anraten von Frau Schmidt-Statzkowski und mit ihrer Unterstützung bei der Antragstellung kümmerte ich mich um einen Schwerbehinderten-Ausweis. Mir wurden 70% bescheinigt, was einen verbesserten Kündigungsschutz bedeutet. Dann erst ging ich gemeinsam mit der Abteilungsleiterin des Integrationsamtes und meiner Pflegeberaterin ins Gespräch mit meinem Arbeitgeber. Das Ergebnis war: Nun wussten alle über meinen gesundheitlichen Zustand Bescheid, dem Arbeitgeber wurde ein Lohnzuschuss vom Integrationsamt zugesichert.
Kurze Stecken konnte ich noch zu Fuß gehen, jedoch selbst Autofahren war nicht mehr drin. Die BFA hätte sogar den Fahrdienst bezahlt um mich zur Arbeit und wieder nach Hause zu bringen, aber meine Kollegen holten mich ab. Um den Arbeitsalltag zu erleichtern, nutzte ich später einen E-Rolli, der im Büro stehen blieb. So arbeitete ich noch bis März 2007 als Betriebsleiter für Kältetechnik weiter, unterbrochen durch Urlaube und Krankheitstage.
Schon 2006 war ich vorsorglich in meine jetzige rollstuhlgerechte Wohnung umgezogen. Meine Freundin wohnt in unmittelbarer Nähe und unterstützt mich, wo sie kann. Zu dieser Zeit übernahm sie bereits meine Pflege. Da sich meine motorischen Fähigkeiten langsam aber kontinuierlich verschlechterten, wurde der Pflegeaufwand immer größer. Meine Freundin war zeitlich nicht mehr in der Lage, mich zu unterstützen, da sie selbst voll berufstätig ist.
Schließlich unterzog ich mich einer Prüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkasse (MDK). Ziel war es die Grundpflege sicherzustellen. Nun damals konnte ich mir z. B. schon nicht mehr die Hosen runter und wieder hoch ziehen, oder mir ein Brot schmieren, geschweige denn die Happen zum Mund führen… Es war also keine Frage, dass mir sofort die Pflegestufe 3 H zu gebilligt wurde. Das ist gleichbedeutend mit dem Anspruch auf 24h-Assistenz-Pflege, da dem MDK klar war, wie die Erkrankung weiterverläuft.
Im März 2007 war es dann endgültig soweit, die Pflege hielt Einzug bei mir. Vorher prüfte ich die Angebote mehrerer Pflegedienste sehr genau; ich hatte ganz konkrete Erwartungen an meinen Pflegedienst:
- Ausschließlich 24 Stunden Pflege
- Volle Kostenübernahme – keinen Selbstzahlanteil
- 12 Std. Dienste der persönlichen Assistenten
- Flexibilität der Pflegekräfte (Reisen, Begleitungen außer Haus etc.)
- Feste Teamstrukturen
- Mitgestaltung der Dienstpläne
- Einfluss auf die Mitarbeiterauswahl für meine Versorgung
Stichwort Einfluss bei der Mitarbeiterauswahl: Ich brachte sozusagen bereits einen Pflege-Assistenten meiner Wahl mit, Jörg einen Bekannten. Mit ihm bereiste ich bereits Anfang 2007 für sechs Wochen Australien, ein tolles Erlebnis. Um die Reisebegleitung zu ermöglichen, hatte ich ihm die Anstellung bei meiner zukünftigen Pflegefirma vermittelt. Später absolvierte er berufsbegleitend die Ausbildung zum Altenpfleger. Damals war uns nicht bewusst wie wichtig diese Entscheidung noch werden sollte, denn als die Entscheidung zur Invasiven Beatmung anstand, stellte sich heraus, dass nur examinierte Pflegekräfte bei mir würden arbeiten dürfen. Jörg ist heute noch im meinem Team.
Anfangs offenbarte sich die Pflege durch Fremde als notwendiges Übel, wurde aber bald zum Alltag. Bis heute ist mir fast alles an Schamgefühl abhandengekommen, mir bleibt schließlich nichts anderes übrig. Heute, mit einem festen Team bei der 1-zu-1-Versorgung, kann ich diese Situation des völligen Ausgeliefertseins akzeptieren. Denn die Arbeit meines Teams lässt mich überleben und ermöglicht mir ein selbstbestimmtes Leben zuführen.
Meine Situation im März 2007: Job aufgegeben, keine konkrete Aufgabe, einerseits jeden Tag jede Menge Zeit, andererseits die Aussicht, dass meine Zeit binnen weniger Jahre abgelaufen sein würde. Für mich aber kein Grund zu resignieren, sondern zu organisieren! Und bei einer 24-Stunden-Pflege ist man nie alleine. Doch was stellt man 24 Stunden mit einem zweiten Schatten an? Bei Laune halten, beschäftigen, oder beides? Die beste Lösung: Die Fähigkeiten und Neigungen individuell einsetzen, so haben alle etwas davon! So gibt es ReisebegleiterInnen, Fotographen, Konstrukteure, EinkaufsberaterInnen, Jungs/Mädels für Alles, TexterInnen, Bürokräfte, SchneiderInnen und Vieles mehr in meinem Team. Und ALLE pflegen mich nach meinen Wünschen und Bedürfnissen.
Anfangs konnte ich meine Arbeitsanweisungen noch mündlich geben, später legten wir sie schriftlich fest. 2009 begannen wir Arbeitsanweisungen zu erstellen, weil es immer schwieriger wurde mich zu verstehen, und es wichtig ist, dass alle an einem Strang ziehen… daraus entwickelte sich ein Einarbeitungskonzept für die Neuen, das immer an die aktuellen Gegebenheiten angepasst wird.
Zunächst ließ meine Fähigkeit, die Arme zu bewegen immer mehr nach. Am Anfang stellte sich das Diktieren von Sätzen noch als einfacher und effektiver dar, als über eine Bildschirmtastatur. Da sich krankheitsbedingt auch mein Sprechvermögen kontinuierlich verschlechterte, wurde die Kommunikation nach außen immer schwieriger. Daher bekam ich im April 2009 ein Kommunikationsgerät („Eyegaze“), welches über meine Augenbewegungen gesteuert wird und mit dem ich einen PC bedienen kann.
Mein Tagesablauf hat sich seit Beginn der 24h Pflege nur wenig geändert: Der erste Teil des Tages gehört meinem Körper, tägliches Durchbewegen durch meine Pflegekräfte nach einem Plan, den meine langjährige Physiotherapeutin Katja erstellt hat. Viermal in der Woche kommt Katja für 120 Minuten selbst und dehnt, drückt und massiert, um die Beweglichkeit zu erhalten. Danach geht es in den Rollstuhl. Im Bett liege ich nur zum Schlafen und gemütlichen Fernsehen am Abend. Den weitaus größten Teil des Tages verbringe ich am Computer, wo ich mit meinen Assistenten, bzw. Pflegekräften E-Mails schreibe und beantworte, Vorträge erarbeite, meine Reisen vorbereite, mich auf dem Laufenden halten.
Das „Auf dem Laufenden sein“ ist mir wichtig! Dazu gehört sich mit der Erkrankung, ihren Auswirkungen auf den Körper bei Zeiten und immer wieder auseinander zu setzen. Zu wissen, was kommt auf mich zu, welche Möglichkeiten habe ich und abzuwägen, welche Optionen sind die Richtigen für mich. Denn über kurz oder lang stellt sich die Frage, wie gehe ich mit den Schluckstörungen und deren Folgen um, wie Aspiration, Erstickungsanfälle nach Verschlucken und dem Gewichtsverlust. Lasse ich mir eine PEG legen, oder nicht. Wie gehe ich mit der zunehmenden Atemschwäche um, der Müdigkeit am Tag, akzeptiere ich eine Maskenbeatmung oder lasse ich mich gar invasiv beatmen? Ich habe mich getreu meines Mottos „Das Leben ist doch schön“ im Jahre 2010 für die PEG-Anlage entschieden. Bereits seit 2007 nutzte ich die Maskenbeatmung in der Nacht und tat letztlich 2012 den Schritt zu Tracheotomie und invasiver Beatmung. Nicht mal ebenso, sondern immer nach Beratung durch Fachleute und Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen.
„Auf dem Laufenden“ halte ich mich auch auf Reha-Messen. Dort schaue ich, was es Neues und Nützliches für mich und für meine Pflegekräfte gibt. Wir bilden ein Team, das meine Vorstellung vom selbstbestimmten Leben realisiert. Dazu gehört auch ein geeignetes Arbeitsumfeld und geeignete Pflege- und Mobilitätshilfsmittel für mein Team.
Und ich besuche regelmäßig Kongresse, auf denen ich Fachvorträge höre und selbst von meinen Erfahrungen berichte. Auf solch einem Kongress traf ich 2008 auf eine ebenfalls von ALS betroffene Gesinnungsgenossin und wir gründeten den Verein ALS-mobil e.V.
Mobilität bedeutet für uns: Raus aus dem Bett. Raus aus der Wohnung, Raus aus dem Haus, dahin wohin ich möchte, wann immer ich es möchte, aktiv am Leben teilnehmen. Dort am Leben teilnehmen, wo es passiert. Das zu realisieren müssen wir wollen und die erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen (lassen).
Seit der Beatmung ist mein Krankheitsverlauf stabil. Dank der Möglichkeiten der modernen Medizin und weil ich diese Angebote angenommen habe, lebe ich noch und kann am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
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